Tierische Freunde!

Die Schatzkiste – Eine Geschichte von Katja Lührs

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© Viviane

Schon kurz vor Sonnenaufgang schien es heute allen Vögeln im
großen Lebensbaum klar zu sein, dass es ein Frühkonzert für alle Bewohner des
Waldes geben könnte. Denn wer von ihnen nicht von allein aufwachte oder von
seinen munteren Nachbarn mit einem chaotischen Wirrwarr von buntem Gezwitscher
geweckt wurde, der schüttelte augenblicklich den Rest von Schlaf aus seinem
Federkleid, so wie er den kleinen Bären laut und fröhlich pfeifen hörte, als
dieser durch den Wald spazierte. Mal hüpfte er von einem Bein auf das andere,
dann, wenn ihm ein Ast oder eine Wurzel im Weg lag, sprang er mit beiden Beinen
zugleich in die Höhe. Dann drehte er sich, immer schneller und schneller
werdend, um sich selbst wie ein Derwisch – bis ihm schwindlig wurde. Wobei er
seltsamerweise fast wie ein kleiner Hund ein schrilles, lautes Jaulen ausstieß.
Und immer wieder erfand er zwischendurch die verschiedensten Melodien, welche
von den Vögeln augenblicklich nachgeahmt wurden.

Wie man pfeift, das hatte er von Tukan, seinem Vogelfreund,
gelernt, der als Meister dieses Faches noch lauter als eine Lokomotive sein
konnte. So sehr der kleine Bär seine Schnauze auch spitzte, sein Pfeifen klang so schwach, als wollte jemand nur
eine Papiertüte aufblasen. Als er endlich den Lebensbaum erreichte und seinen
Rücken an der Borke reiben konnte, kam ihm Tukan zu Hilfe. Sein
markerschütternder, schriller Pfiff klang noch lauter als der eines mit
Höchstgeschwindigkeit fahrenden Schnellzuges und ließ augenblicklich jegliches
Zwitschern und Schwänzeln im Wald verstummen. Der kleine Bär rieb
augenblicklich seine Ohren, denn der laute Pfiff hallte darin noch nach.
Trotzdem: Vergnüglich brummend setzte sich darnieder, seinen Rücken an den
mächtigen Stamm anlehnend. Aus dem zotteligen Fell unter seinem rechten Arm
kramte er eine kleine, hölzerne Schachtel hervor und stellte sie, verschmitzt
lächelnd, zwischen seine ausgestreckten Beine. Achtsam bemühte er sich dabei,
kein einziges Gänseblümchen zu zerdrücken.

Ganz bedächtig, erst nur einen winzigen Schlitz breit, begann er,
die Schachtel zu öffnen, als fürchtete er, ihr Inhalt könnte ihm auf- und
davonfliegen. Doch dann fasste er Mut, und schon erstrahlte sein Gesicht im
Lichterglanz der funkelnden Pracht eines kostbaren Schatzes. Geblendet von Gold
und Silber erschien ihm das Glitzern wie eine Lichtwolke in den Farben des
Regenbogens. Als eiferten all die Schmuckstücke, die Edelsteine und Diamanten,
die Ketten und Ringe, die Münzen, Armreifen und Broschen mit ihrem jeweils
besonderen farbigen Glanz um die Wette.

„Ist das nicht ein wunderschöner, ein einzigartiger Schatz, der
uns hier entgegenstrahlt und verzaubert!“, murmelte er mehrfach vor sich hin,
ohne zu bemerken, dass Tukan, sein bester Freund und Glücksbote, sich über ihn
auf einem starken Ast niedergelassen hatte. Und alles Gezwitscher verstummte
wieder. Es herrschte absolute Stille, damit jeder hören konnte, was Tukan
sprach:

„Au Backe, mein lieber Bärenschwan, sieh mal einer an, wo hast du
denn das her? Gibt es vielleicht noch mehr davon? Und verrate uns doch bitte
wo!“

„Ich stolperte fast darüber, als ich im letzten Winter vor dem
ersten Schnee meine Winterhöhle aufsuchte, um mein Quartier vorzubereiten. Alle
aus meiner Bärenfamilie wussten bereits davon. Und mein Neffe erzählte mir,
dass ein Mensch, eine alte, freundliche Frau, das Kästchen dort hingestellt und
einen Brief an seine Seite gelegt hatte, der an alle Bewohner des Waldes
gerichtet war. Wenn sie irgendwann nicht mehr lebt, so war es ihr Wunsch,
sollte der Schatz den vielen Tieren des Waldes gehören.“

„Und sie lebt, wie schade, schade, leider nicht mehr?“

„Nein, und deshalb haben jetzt alle meine Bärenfreunde
entschieden, dass ich den Schatz nun verteilen darf. Also, hört mal alle her!
Bei meiner Bärenehre schwöre ich: Es ist eine Spende von einer guten Seele an
uns alle hier, die ganze Natur, die Bäume und alle Tiere, große und kleine,
weiblich oder männlich, ohne Unterschied, von jeder Art, ohne Ausnahme und
jeden Alters. Und bei dir Tukan, mein bester Freund, fange ich gleich an.“

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© Nadine

„Wirklich – das finde ich einfach umwerfend von dir! Du hättest ja
auch sagen können, alles was ich in meiner Höhle finde, gehört mir! Aber bitte,
liebe Freunde und auch du, kleiner Bär, überlegt euch gut, was ihr damit machen
wollt. Verschwendet es nicht für irgendeinen Blödsinn. Denkt daran, dass Mumie,
die Mutter des kleinen Bären, früher in einem Gefängnis namens Zirkus arbeiten
musste und darunter sehr gelitten hat, wie alle Wildtiere dort, die dasselbe
Schicksal erleiden, wie Affen, Elefanten, Löwen, Tiger, Giraffen, Nashörner und
Flusspferde. Freiheit und die Freude am Leben durfte sie erst erfahren, als sie
alt und krank wurde und der Zirkus sie loswerden wollte. Als die Tierschützer,
unsere liebevollen Menschenfreunde, von ihr hörten, haben sie Mumie
freigekauft! Nun gut, ich werde mir etwas Schönes aus der Schatzkiste
herausfischen, und ich hoffe, es ist wertvoll genug, damit ich davon einem Tier
in großer in Not ebenfalls helfen und, wo nötig, es vielleicht auch freikaufen
kann.“

Der prächtige Tukan hielt inne und schwieg für einen Moment.
Seinen eindringlichen Blicken konnte sich niemand in der Runde entziehen,
sodass sich auch im Schweigen jeder angesprochen fühlte. Doch dann erhellte
sich seine Miene und er fuhr fort:

„Liebe Freunde, wir wollen heute, an diesem wunderbaren Tag der
Freude, wo wir alle so reich beschenkt werden, aber auch nicht vergessen, wem
wir das alles zu verdanken haben, und die reife Dame für ihr Vermächtnis ehren
und sie in unsere Herzen aufnehmen, jeder für sich auf seine eigene Weise.“
„Warum war die alte Dame denn auf einmal reif?“, zwitscherte eine junge Amsel
sehr leise, fragend – von einem Ast, der zu der alten Eiche gehörte. „Ich finde,
‚reif‘ hört sich besser an für diese tolle Frau, denn sie war sehr
vorausschauend, klug und weise. Übrigens, wir alle können zusammen gleich
morgen zu ihrer letzten Ruhestätte gehen. Ich werde ihr einige Blätter vom Lebensbaum in meinem Schnabel mitbringen und allen
Schmetterlingen Bescheid sagen, dass sie mitkommen, um ihr Grab für eine
Andacht mit ihren Flügeln zu bedecken. Und wenn ihr alle auch mitkommt, könnten
wir ein kleines spontanes Konzert für sie veranstalten. Was meint ihr?“

Da brach ein tosender Jubel von tausenden Vogelstimmen los, der
selbst noch den mehrfachen Lokomotive-Pfiff von Tukan übertönte.

„Ja, wir werden uns alle morgen in der Frühe hier wieder treffen
und dann gemeinsam losziehen!“, klang es von überall herüber. Der kleine Bär
drehte sich vor lauter Freude im Kreis, bis ihm schwindlig wurde. Dann blieb er
jäh stehen und streckte seine Arme gen Himmel, um wieder Ruhe einkehren zu
lassen und sich Gehör zu verschaffen.

„Mein guter und allerbester Freund Tukan, weise und eindringlich
hast du mit uns gesprochen. Dies ist unser aller Glückstag. Darum lasse uns
diesen Tag feiern. Du hast mir und allen Bewohner des Waldes so viel Glück
gebracht mit deiner Klugheit und Weitsicht. Du sollst der Erste sein, der sich
ein Schmuckstück aussuchen darf. Auf geht’s.“

Noch während der kleine Bär redete, wurde Tukan vor Freude ganz
aufgeregt, flatterte mit seinen Flügeln und hüpfte von einem Bein aufs andere,
als wollte er jeden Moment abheben. Ein lang gedehntes „Uiiiiiiiiiiiiii, das ist
ja einfach fünffach Klasse!“ entwich seinem langen, gelbroten Schnabel. „Also
gönne ich mir was und ihr euch auch!“ Sein Hals wurde immer länger, während er
– seinen Kopf schief haltend – mit einem Auge tief in die Schatzkiste schaute.
Doch dann pickte er sich entschlossen eine im Licht schimmernde Goldkette mit
einem tiefrot funkelnden Anhänger heraus.

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© Anna

„Das ist eine ausgezeichnete Wahl von dir“, brummte der kleine Bär
anerkennend nickend vor sich hin. Und an seinem breiten Lächeln sahen ihm alle
an, wie sehr er sich für seinen Freund freute. Denn manchmal macht ja das
Schenken eine viel größere Freude als selbst beschenkt zu werden.

„Ach bitte, häng mir doch mein Prunkstück gleich um den Hals. Mit
meinem langen Schnabel und den Flügeln und meinen so kurzen Beinen wird mir das
nicht gelingen!“

Gesagt, getan! Schon hing die Schmuckkette am Hals von Tukan.
Beide umarmten sich innig und beschworen ihre Freundschaft für alle Ewigkeit.

„Wir sind uns beste Freunde fürs Leben“, sprach der Bär. „Wie aber
willst du die Kette wieder abnehmen, wenn ich nicht da bin?“

Ganz empört krächzte Tukan, der vom schrillen Pfeifen ein bisschen
heiser geworden war: „Bist du verrückt! Ich die Kette ablegen? Diese schöne
Kette, meine absolute Glückskette, dein wunderbares Geschenk. Niemals! So werde
ich immer an dich denken, wo ich auch bin.“ Sprach es und schwang sich
augenblicklich in die Lüfte, um voller Stolz allen Freunden im Wald das
Geschenk zu zeigen. „Kein Besitz macht Freude, wenn man allein darauf sitzen
bleibt“, rief ihm der kleine Bär winkend hinter ihm her.

Von da an wussten alle Bewohner des Waldes, die dabei waren, dass ihr größter Schatz nicht der Inhalt der Schatzkiste sei, sondern die Freundschaft und Liebe aller Waldbewohner, mit denen man durch „dick und dünn“ – in guten wie in schlechten Zeiten – gehen kann.

Über die Autorin

Katja
Lührs ist nicht nur eine bekannte Moderatorin und Künstlerin, sie schreibt und
malt auch wunderschön. Zudem liebt sie Tiere, die Natur und die Umwelt!

Deshalb
engagiert sich Katja schon seit mehr als 20 Jahren zusammen mit PETA für die
Rechte der Tiere.

Sie
ist ein Vorbild, denn sie lebt und liebt ihr tierfreundliches Leben an jedem
Tag.

Mehr Informationen: www.katjalührs.com

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