Der kleine Bär war mit seinen Freunden gegen sechs Uhr früh auf seinen kurzen stämmigen, kräftigen Beinen unterwegs. Langsam und gemütlich, noch etwas müde bummelten alle an diesem sonnigen Sommermorgen hintereinander her. Eine frische Brise und für diese Uhrzeit schon wärmende Sonnenstrahlen durchfluteten den wunderschönen Wald. „Mensch Meier! Ich krieg die Tür nicht zu. Ist das bombastisch, wie die Sonne zwischen einige Bäume scheint und so riesig lange Schatten wirft! Das Schauspiel veranstaltet sie auch nur frühmorgens oder am späten Abend! Weil sie dann so schräg am Himmel steht“, beendete er seinen Redefluss. Schlappohr schaute zu Joni, seinem kleinen Hasenfreund, der sichtlich beeindruckt war von dieser klugen Feststellung. Joni holte tief und lange Luft. Beim Ausatmen tanzte seine vorwitzige kleine Nase hin und her. Dies ging dann in ein Schnüffeln über. Schlappohr liebte es, seinen Freund schnüffeln zu sehen, er sah dabei so urkomisch, liebevoll, richtig zum Anbeißen aus. „Lass mich raten“, meinte er vor sich hin lachend, „du erschnüffelst doch jetzt nicht etwa das Licht, dass den Bäumen so lange Schatten beschert?“ „Ich“, so Joni, „erschnüffele den ganzen wunderbaren Morgen, diese frühe Tageszeit, und uns!“ „Wau!“ Schlappohr schüttelte seinen Kopf so heftig hin und her, dass ihm beide Ohren fast wie ein Kreisel um den Kopf flogen. Anschließend sprang er wie eine leichte Feder zwei drei Schritte nach vorn und erreichte den kleinen Bären mit den Worten: „Bombastisch, und was denkst du über den fantastischen Sonnenaufgang, die langen Schatten der Bäume und so allerhand Geruch, der in der Luft liegt?“ „Ach, ne, na, nö“, brummte dieser. „Was soll ich denken? Ich schlafe noch halb vor mich hin. Oder besser gesagt, ich meditiere beim Laufen und versuche, an überhaupt nichts zu denken. Eine Quizshow veranstalte ich mit euch zu einer späteren Stunde. Außerdem ist bei dir das Wort ‚bombastisch‘ ein Dauerbrenner!“ „Wie meinst du das?“, wollte Schlappohr genauer wissen. „Nun ja, dein nächster Satz könnte sein: Schaut mal eine Spinne, die munter ihr Netz spinnt, eine Biene in dieser farbenprächtigen Blüte, ein Vogelnest mit Eiern, ist das nicht bombastisch?“
Macken hat jeder von uns! Größere und kleinere
Schlappohr war sehr sensibel und Klein-Joni noch mehr. In solchen Situationen hatte er gelernt, bevor er im Tonfall etwas lauter wurde, dreimal tief ein- und auszuatmen. Joni hielt inne mit seinem Schnüffeln und tat sofort das Gleiche wie sein Freund. Beide fühlten sich durch die Bemerkung des kleinen Bären angesprochen, und so plapperten sie auch gemeinsam den gleichen Satz: „Macken hat jeder von uns! Größere und kleinere, und keiner der Anwesenden ist davon ausgeschlossen. Und wenn du ein Morgenmuffel bist, dann sage es doch einfach klar und deutlich, und wir lassen dich in Zukunft mit unserem, in deinen Augen, Geschwätz in Ruhe.“ Joni, der gerne aufgestauten Wind aus irgendwelchen Segeln nahm, lenkte sofort erschrocken ein. Mit ein wenig übertrieben fröhlicher Stimme versuchte er, zu scherzen: „Bei mir ist alles praktisch!“ „Wirklich?“ Schlappohr stellte sein zweites, etwas schlappes Ohr mal wieder kerzengerade in die Luft, was für ihn ein kleiner Kraftakt war. Das machte er grundsätzlich, wenn bei ihm irgendwelche Zweifel aufkamen. „Nenne ein Beispiel, gerne auch zwei.“ „Vor sieben und einer halben Minute habe ich vorgeschlagen, dass wir praktisch auch den Weg abkürzen können um quasi Zeit zu sparen. Oder gestern habe ich praktisch fast den ganzen Tag verpennt.“ „Stimmt“, so Schlappohr, „aber mit diesem Wort, ich will es jetzt nicht nochmal wiederholen, sonst merkt mein Gedächtnis es sich, denn ich neige dazu, und dann bin ich nicht nur bombastisch, sondern auch noch praktisch unterwegs! Das wäre für unseren Morgenmuffel, den kleinen Bären, der absolute Alptraum.“
„Aha! So so!“ Der kleine Bär mischte sich brummend ins Gesprächsgeschehen mit den Worten: „Entschuldigt bitte! Große Entschuldigung für mein reichlich blödes Verhalten! Du Schlappohr, mein toller, warmherziger Freund, und Joni, du kleiner Hasenengel, bleibt bitte bei euren Schlagwörtern! Mir würde sonst wirklich etwas fehlen! Da fällt mir ein, dass ich gerne Sätze überbrücke mit ‚äh‘, ja, und ich unterteile auch noch Sätze mit erstens, zweitens und drittens!“ Spontan konnte er herzhaft über sich selber lachen.
Lachen ist ansteckend und löst Ärger in Luft auf
Dieses Lachen war wie immer so ansteckend, dass sämtlicher Ärger, der in der Luft lag, genauso schnell verschwand, wie er gekommen war. Nun war Joni an der Reihe und hatte etwas Wichtiges zu verkünden. „Mein großer, brauner Freund, der du uns immer so gut beschützt: Dass du dir gerne auch Fehler eingestehst und dich gleich entschuldigst, das finde ich mehr als nur großartig. Das können nur wenige unter den vielen Lebewesen. Viele gestehen sich ihr Fehlverhalten nie ein. Ganz im Gegenteil, und so können sie aus ihren Fehlern auch nicht lernen. So entstehen tiefe Risse und Brüche in Freundschaften, die manchmal auch schwer wieder zu kitten sind. Ja, und wenn das öfter passiert und auch mit schwerwiegendem Fehlverhalten, dann gibt es da im Volksmund ein Sprichwort: ‚Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht!‘“
„Aber hallo! Wo hast du das denn her? Und wie treffend du das formuliert hast.“ „Das habe ich von dir aufgeschnappt!“ Der kleine Bär staunte nicht schlecht, packte sich Joni und wirbelte mit ihm zweimal im Kreis, um ihm anschließend einen dicken Schmatzer auf die Stirn zu geben. „Das rockt, du bist und bleibst einfach spitze, mein geliebter Joni, und du Schlappohr auch. Kommt beide her, meine fantastischen Zwei.“ Schnell, wie ein geölter Blitz, hatte er jetzt auch noch Schlappohr gepackt, um ihn auch durch die Luft zu wirbeln. Verdutzt und voller Freude meinte dieser: „Du willst mich doch jetzt nicht auch etwa küssen? …“ Und schon hatte auch er einen gut platzierten Kuss mitten auf seiner Stirn. Wieder auf dem Boden der Tatsachen strahlte er überglücklich bis hin zu seinen beiden Ohren.
Großes Treffen am Spiegelsee
Endlich am Spiegelsee angekommen, trafen sie auch noch auf Emma, die Igel-Dame, mit ihren drei Kindern, das Eichhörnchen Friedolin, den Tukan und Paul, den alten Dachs. „Freunde, das nenne ich Zufall“, klapperte Tukan aufgeregt mit seinem gelben Schnabel. Joni versteckte sich halb hinter dem kleinen Bären. Alle Hasen, ob groß oder klein, hatten einen Riesenrespekt vor Tukan mit seinem riesengroßen, wuchtigen Schnabel. Jeder, der ihn sah, dachte augenblicklich, wie es sich wohl anfühlen musste, jeden Tag so einen schweren Hinkelstein mit sich rumzuschleppen. Noch schlimmer musste es sein, damit abzuheben, sich in die Lüfte zu schwingen. Am schlimmsten – und sehr umständlich – stellten sich alle Hasen das Essen von Tukan vor. Mit dem Schnabel würde er keine einzige Mohrrübe runterbringen. Tukan sah Joni noch immer leicht verdeckt hinter dem kleinen Bären stehen, und sein Mini-Herz pochte noch schneller. „Hi Joni, was hast du heute Morgen schon so alles wieder angestellt? Du weißt schon, dass ich dich einmal um die Welt herum, was unendlich bedeutet, liebe und ein richtiger Fan von dir bin?“
Er breitete seinen linken schwarzen Flügel aus, um Joni aufzufordern, darunter zu hüpfen. Eine Geste, die er noch keinem der Tiere angeboten hatte. Alle in der Runde waren beeindruckt, und Joni kroch unter den schützenden Flügel. Nachdem er seine Fassung zurückgewonnen hatte, meinte er, mit großen Hasenaugen bewundernd auf Tukan gerichtet: „So einen außergewöhnlichen, respektierten und guten Freund dazugewonnen zu haben, ist ein großes Glück!“ Um bei seinem neuen Freund noch etwas mehr Eindruck zu hinterlassen, berichtete er mit aufgeregter leiser Stimme: „Ich habe ganz früh morgens, gerade als die Sonne aufging, einen Regenwurm wieder in die Erde reingebuddelt, einen Schmetterling, der sich in einem Spinnennetz verfangen hatte, befreit, und drei Schnecken mit ihrem einzigartigen Gehäuse über den Waldweg getragen, damit niemand auf sie drauf steigt und ihr Haus dabei kaputtgeht.“
Tu täglich Gutes!
„Ich beobachte dich oft dabei und finde dich zum Niederknien süß!“ Emma lief mit ihren vier flinken Beinen zu Joni, der immer noch unter dem rabenschwarzen Flügel von Tukan zusammengekauert, aber sehr glücklich, saß. Komplimente, wenn diese vom Herzen kommen und ehrlich gemeint sind, helfen, das Selbstbewusstsein zu stärken. Und das fühlte Klein-Joni gerade, und vor Freude klopfte sein kleines Hasenherz schneller als sonst. Emmas winzige Kinder rannten ihr aufgeregt mit sanften Grunzgeräuschen hinterher. Bei Joni angekommen, schnüffelte sie zart und sehr liebevoll an seinem Fell. „Mmmmmm“, bemerkten alle und stellten einstimmig fest: „Du riechst für uns immer so unübertroffen gut nach frischem Gras und Blumen.“ „Warum rettest du all diese vielen Kleintiere?“, wollte Emma noch unbedingt in Erfahrung bringen. „Einmal, so hat uns der kleine Bär erzählt“, dabei blickte er zu ihm rüber, „dass alle diese kleinsten Tiere sehr nützlich sind für die Natur und alle Lebewesen. Dann haben wir doch immer noch unser gemeinsames Spiel ‚Tu täglich Gutes!‘. Und wenn ich einmal nicht mehr auf dieser Erde bin, dann werden all die Tiere, die ich gerettet habe, traurig sein und mich aus vollem Herzen vermissen!“ Der kleine Bär verfolgte mit regem Interesse das Gespräch und wollte gerade etwas dazu beitragen, als Schlappohr sich meldete: „Aber du wirst alle diese Kleinsttiere überleben?“ „Ja, wo er Recht hat, hat er Recht“, meinte auch Emma.
„Das kann schon sein! Aber wenn ich das mein ganzes Leben veranstalte, und das werde ich auch, dann habe ich einmal sehr viele kleine nützliche Tierfreunde gerettet! Zum anderen werden dann schon noch einige hier auf dieser Welt sein und sich freuen, dass ich sie gerettet habe! Ihr Leben ist zu kurz und für die Natur zu wertvoll, als diese wundersame Erde zu früh zu verlassen.
Haben die Freunde das tägliche Spiel vergessen?
Alle in der Runde waren mucksmäuschenstill und schauten Joni mit runden, erstaunten Augen an. Das mussten sie sich erstmal alle bildhaft vorstellen, was in diesem kleinen Kopf so Kluges vor sich geht. „Brillant oder wegen mir auch bombastisch“, Schlappohr trommelte mit allen vier Pfoten auf den Wiesenuntergrund. „Du bist umwerfend, ich finde keine anderen Worte für dein spitzenmäßiges Verhalten. Das werde ich jetzt auch praktizieren.“ Spätestens jetzt waren alle in Jonis Fangemeinde und wollten ab heute und in aller Zukunft so handeln wie er. Mit anderen Worten, jeden Tag ein gutes Werk tun oder freundliche Worte finden, wenn es anderen nicht so gut geht – und warum nicht auch gleich zwei, drei oder sieben, wenn sich die Gelegenheit bietet.“
„Freunde“, so der kleine Bär, „Joni hat es gerade auf den Punkt gebracht, habt ihr wirklich alle vergessen, dass wir täglich an unser gemeinsames Spiel denken wollten? Scheinbar setzt das nur Joni um, und das mehrfach täglich!“
Schlappohr kratzte sich sehr umständlich und verlegen an seinem Hinterkopf. Dann räusperte er sich und meinte: „He, wir wollten uns doch jeden Abend bei Sonnenuntergang gegenseitig erzählen, wer wann, wie und mit wem sein tägliches gutes Werk in die Tat umgesetzt hat.“ „Richtig“, der kleine Bär guckte etwas betölpelt in die kleine Tierrunde. „Wir haben uns jeden Abend so viel Neues zu erzählen, und dabei ist das leider total untergegangen. Schade!“ Joni schlüpfte unter dem schützenden, schwarzen Flügel von Tukan hervor, um anschließend wie von einer Tarantel gestochen über die Wiese zu hüpfen. Schnell war er bei seinem Bärenfreund und meinte: „Du hast das Spiel nicht vergessen! Jeden Abend erzählst du uns neue Geschichten über das Leben und den Austausch mit deinem Lebensbaum, der alten Linde. Und dadurch kommen wir erst auf so viele, für die Natur so nützliche, gute Gedanken. Und wenn man erstmal angefangen hat, Gutes zu tun, dann macht es nach kurzer Zeit eine Riesenfreude, es immer wieder zu tun.“
„Holalahüti“, brummte der kleine Bär unüberhörbar! Mit Jodeln hatte das wenig zu tun! „Was haltet ihr davon, wenn wir heute mit neuem Schwung unser Spiel neu beginnen?“ Alle riefen begeistert, so laut sie nur konnten: „Ja!“ „Was für ein wunderschöner Tag“, klapperte Tukan aufgeregt mit seinem Schnabel, und seine Augen leuchteten. Er breitete erneut einen seinen Flügel aus und forderte Joni damit liebevoll auf, wieder an seine Seite zu kommen.
Wenn ich achtsam bin, dann ist jeder Tag für mich spannend und neu
„Was haben wir heute gelernt?“, fragt der kleine Bär in die Runde. „Achtsamkeit“, klapperte Tukan. „Ja“, so Joni, animiert durch den Gedankengang von Tukan, „achtsam und wachsam durch unser Leben zu gehen!“ „Anderen zu helfen, und das gelingt nur durch Achtsamkeit, sonst würde uns überhaupt nicht auffallen, dass andere Hilfe benötigen“, so Emma. Ihre drei Jüngsten, obwohl sie es kaum verstanden hatten, grunzten und schmatzten leise dazu. „Wenn ich achtsam bin, dann ist jeder Tag für mich spannend und neu!“ „Warum?“, fragte Schlappohr neugierig, denn scheinbar stand er auf irgendeiner Gedächtnisleitung. „Na ja, wenn du mit offenen Augen durch dein Leben gehst, siehst du jeden Tag andere Blumen, die blühen, wie sich das Licht verändert. Du spürst den Wind in deinem Fell, erschnüffelst täglich neue Gerüche, kannst gute Taten vollbringen … und – und – und!“ „Jetzt verstehe ich, was du meinst, denn genau darüber habe ich heute Morgen mit Joni philosophiert und so schließt sich der Kreis.“
Mensch Freunde, so jung kommen wir nicht mehr zusammen, aber das sagte ich schon einmal bei anderer Gelegenheit.
Über die Autorin
Katja Lührs ist nicht nur eine bekannte Moderatorin und Künstlerin, sie schreibt und malt auch wunderschön. Zudem liebt sie Tiere, die Natur und die Umwelt!
Deshalb engagiert sich Katja schon seit mehr als 20 Jahren zusammen mit PETA für die Rechte der Tiere.
Sie ist ein Vorbild, denn sie lebt und liebt ihr tierfreundliches Leben an jedem Tag.
Mehr Informationen: www.katjalührs.com